Montag, Januar 16, 2006

Spiegel Online berichtet

Das ist echt ein Widerspruch Indiens. Die Modernisierung und der wirtschaftliche Erfolg und die gleichzeitige patriotische Ablehnung gegen "westliche Einflüsse".
Das Durchgreifen im Nachtleben, Farbbeutel-Attacken auf westliche Geschäfte in Bangalore sowie auf Kinos, die nicht den lokalen Film stützen. Und auch bei diesem Thema zeigt sich der Konflikt:

Fatwa gegen kurze Röcke

Von Padma Rao

Ausgerechnet in den weltoffenen Computermetropolen des Subkontinents macht sich neue Prüderie breit. Selbst "Playboy"-Models müssen sich anziehen.

Das Land ist für die akrobatischen Stellungen kopulierender Paare auf seinen Tempelfriesen berühmt. Steinerne Ringelreihen erzählen erotische Geschichten, auch vom Hindu-Gott der Liebe und von seinen Abenteuern mit Hirtenmädchen, die der Wüstling beim Bad im Fluss überrascht. Ein 1700 Jahre alter Leitfaden der Liebe, das berühmte Kamasutra, bietet neben philosophischen Überlegungen zum Glück in der Ehe auch höchst handgreifliche Tipps für die ganze Palette sexueller Wonnen.

Sollte es da nicht möglich sein, dass eine berühmte und gottesfürchtige Schauspielerin - Fans haben zu ihrer Ehre sogar Gebetshäuser errichtet - über Kondome und vorehelichen Geschlechtsverkehr spricht? Oder dass ein weiblicher Tennisstar in kürzesten Röckchen und knappsten T-Shirts rumläuft? Dass Pärchen sich in Discos küssen und Liebende am Strand Händchen halten, um von heißblütigen Weiterungen gar nicht erst zu reden?

Um Krishnas willen: nein. Berufene und selbsternannte Moralapostel haben in den vergangenen Monaten immer deutlicher und immer drängender zum Schutz der indischen Jugend vor Unmoral und Sittenverfall aufgerufen. Extremistengruppen, aber auch opportunistische Politiker haben mit Hinweisen auf die angebliche öffentliche Sittenlosigkeit die Wut eines randalierenden Mobs geschürt, die Arbeit von Parlamenten aufgehalten und sogar Gesetze in ihrem Sinne verändern können. Verordnete Tugendhaftigkeit macht sich im traditionell eher sinnenfrohen Land breit.

Als Aktivistin gegen Aids hatte der südindische Filmstar Khushboo, 35, Ende vergangenen Jahres zu sagen gewagt, indische Männer möchten doch hinfort auf die "altmodische Annahme verzichten, dass alle Frauen als Jungfrauen in die Ehe gehen" müssten. Gegen die Ausbreitung der tödlichen Krankheit empfahl die Mutter zweier Kinder Kondome.

Das hätte sie besser bleiben lassen. Prompt riefen empörte Politiker zu Demonstrationen vor ihrem Haus auf, die Schauspielerin wurde mit Tomaten beworfen, 24 wütende Bürger zeigten sie wegen Verletzung der öffentlichen Moral an. Nach einer Verhaftung wurde sie gegen umgerechnet 100 Dollar Kaution mit der Auflage entlassen, künftig den Mund zu halten.

Selbst die Chefministerin des südindischen Bundesstaats Tamil Nadu ließ sie im Stich, warf ihr einen "Verstoß gegen die indische Kultur" vor, und auch Neu-Delhis Gesundheitsminister, der Arzt Anbumani Ramadoss, wollte Khushboo nicht zu Hilfe kommen. "Es ist nicht so, dass wir Inder keinen Sex haben", wand er sich, "wir reden nur nicht darüber."

Der 19-jährigen Tennisspielerin Sania Mirza wurde von den Tugendwächtern angekreidet, dass sie zu ihren superkurzen Röcken gern mal ein ärmelfreies T-Shirt mit einer kaum zu widerlegenden Aufschrift trug: "I'm cute, no shit!" In vier Jahren hatte sich Mirza vom Platz 987 in der Weltrangliste auf Platz 34 hochgearbeitet; in Umfragen belegte die junge Muslimin stets Rang eins als die beliebteste Jugend-Ikone Indiens.

Als Mirza weiterhin von Sieg zu Sieg eilte, meldeten sich plötzlich islamistische Eiferer aus Hyderabad, ihrer Heimatstadt, mit einer Fatwa zu Wort: Mirzas Tenniskleidung sei "unislamisch", sie solle sich gefälligst bedecken.

"Solange ich Spiele gewinne, brauchen sich Leute keine Sorgen darüber zu machen, ob mein Rock zentimeter- oder meterlang ist", erwiderte der Teenager keck. "Was ich anziehe, ist meine Sache." Als Mirza dann auch noch der bedrängten Schauspielerin Khushboo zu Hilfe eilte, war es schließlich der prüden Hindu-Mehrheit des Landes zu viel. Strohpuppen mit den Gesichtern beider Frauen wurden in Brand gesetzt, Khushboo versteckte sich, Mirza musste Leibwächter beschäftigen. Als der Druck immer stärker wurde, gaben beide Frauen öffentliche Entschuldigungen ab.

Die neue Sittsamkeit ist größtenteils Heuchelei. In Indiens boomenden Städten gedeiht auch die Softporno-Branche prächtig. Bollywood, die gigantische Filmindustrie von Bombay alias Mumbai, versteht sich ausgezeichnet auf exquisiten Striptease. Spärlich bekleidete Models sind stundenlang auf den Modefernsehkanälen zu bewundern, russische Sexfilme werden ab Mitternacht ausgestrahlt.

Das Männermagazin "Maxim" will sich auf dem riesigen indischen Markt etablieren, der "Playboy" soll alsbald folgen. Hugh Hefners Blattmacher haben allerdings die Zeichen der Zeit erkannt. In der indischen Ausgabe werden die Bunnys bedeckt auftreten. Nicht allzu sehr, aber immerhin: Nackedeis sind tabu.

Verwunderlich ist, dass die Rückkehr zur Schamhaftigkeit vornehmlich in Indiens IT-Metropolen erkennbar ist, ausgerechnet in den Städten, die am intensivsten um ausländische Investoren konkurrieren und sich sonst gern weltoffen und tolerant geben. Hyderabad ist Indiens zweitgrößtes Zentrum für Computertechnologie und Standort von Microsofts größtem Entwicklungslabor außerhalb der Vereinigten Staaten.

So ist es naheliegend, dass die neue Prüderie auch eine Folge der rasanten Wirtschaftsentwicklung des Landes ist. "Indiens wohlhabende, aber konservative Mittelschicht sieht alte Familienstrukturen durch die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen am meisten gefährdet", glaubt der renommierte Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler Sudhir Kakkar. "Mit ihren offenen Äußerungen über Sex sind Khushboo und Mirza offenbar zu weit gegangen."

In Khushboos Heimat Chennai - auch das ehemalige Madras ist ein IT-Schwerpunkt - veröffentlichte eine Boulevardzeitung Bilder von küssenden Paaren in der Discothek eines Fünf-Sterne-Hotels. Daraufhin verlor das Hotel seine Gewerbelizenz, die Übeltäter mussten die Unterkunft verlassen und wurden mit Haftstrafen bedroht.

Die Stadtpolizei ernannte sich offiziell zu "Schützern der Moral Chennais", doch die übereifrigen Tugendwächter missbrauchten die entlang des populären Marina Beach installierten Sicherheitskameras, um Fotos von turtelnden Paaren aufzunehmen und diese hinterher zu erpressen. In anderen Städten machten Polizisten noch Ende vergangenen Jahres regelrecht Jagd auf knutschende Pärchen in öffentlichen Parks. Ein gefilmter Übergriff in der Stadt Meerut wurde wieder und wieder im Fernsehen gesendet.

Manche halten die ganze Aufregung für überflüssig. "Es gibt einige Lebensweisen, bei denen wir dem Westen nicht blind folgen können", sagt die Abgeordnete Krishna Tirath. Ihre Empfehlung: "Weil unsere Gesellschaft vorehelichen Sex nicht akzeptiert, muss man ihn eben geheimhalten."

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